Oh Mann, was für ein Jahr! Das hatten wir uns aber völlig anders vorgestellt. Vom Reisen ins Ausland ganz zu schweigen, war uns wochenlang selbst das Wandern offiziell nicht einmal erlaubt. Doch nun wollten wir das einzig Mögliche in Angriff nehmen und endlich unsere verschobene Fernwanderung entlang des 119 Kilometer langen Schluchtensteigs nachholen. Für 6 Tagesetappen war diese angesetzt, und wie immer wollten wir die Distanz an einem Tag weniger überwinden. Ob uns das letztendlich gelungen ist, und was wir während dieser Wanderung so alles erlebt haben, will ich euch nun erzählen.
02.06.2020 – von Stühlingen bis in die Wutachschlucht
Nachdem wir eine geräuschintensiven Nacht im Dachzelt verbracht hatten, galt es nun, unsere fast 20 kg schweren Rucksäcke aufzuhuckeln. Nach all der Zeit der Abstinenz war das zugegebenermaßen im ersten Moment noch etwas gewöhnungsbedürftig. Doch da wir es uns zur Aufgabe gemacht hatten, heuer gar nirgends einzukehren, mussten wir den kompletten Reiseproviant eben von Beginn an mit uns herumschleppen. Selbst wenn man Packmaß und Gewicht bis zum Gehtnichtmehr optimiert und sogar die 5-Minuten-Terrinen in kleine Tütchen umfüllt, kommt dennoch summa summarum so einiges zusammen. – Aber wir wollen jetzt nicht etwa herumjammern, wenn man bedenkt, dass bei Bergexpeditionen leicht das Doppelte gebuckelt wird. Wichtig war lediglich, endlich einmal wieder in die Natur zu kommen, neue Kraft zu tanken und den Kopf für ein paar Tage freizubekommen.
Startpunkt unserer Wanderung war das kleine Städtchen Stühlingen im Südschwarzwald, direkt an der Schweizer Grenze, deren Besichtigung wir auf einen anderen Zeitpunkt verschoben haben; schließlich wollten wir ja heute schon eine beträchtliche Etappe zurücklegen. Ging es anfangs noch weniger ansprechend neben der gut befahrenen Bundesstraße her, kamen wir nach ca. einer Stunde endlich in ruhigere Gefilde und konnten nun damit beginnen, etwas abzuschalten. Da dieser Abschnitt nicht so viele Highlights zu bieten hat, scheint er auch von weniger Wanderern heimgesucht zu werden; was uns natürlich mehr als Recht war. So konnten wir die beruhigende Stille und die Faszination der Natur in vollen Zügen genießen, während wir auf den kleinen holprigen Waldpfaden entlang der Wutach hinauf zu den Wutachflühen spaziert sind. Hier und da gab es eine kleine Höhle zu entdecken, seltsam geformte Felsen, liebevoll errichtete Steinpyramiden oder von Moos und Schlingpflanzen überzogene Bäume. Es gibt nichts Schöneres, als in so einer friedlichen Umgebung sich sein Frühstück schmecken zu lassen; das Wasser hierfür frisch vom Bach abgeschöpft.
So gestärkt ging es nun weiter bergan über Wiesen und Felder bis zum Aussichtspunkt auf dem Buchberg; was uns ordentlich Schweiß gekostet hat. Man mag es vielleicht nicht glauben, aber auch im Schwarzwald gibt es deftige Anstiege; nicht umsonst summiert sich der Schluchtensteig auf satte 3000 Höhenmeter allein bergauf. – Jedenfalls hatten wir von dort aus erst einmal eine ganz gute Aussicht auf die Umgebung und unser nächstes Etappenziel Blumberg. Doch da wir “Oberbayern” ehrlich gesagt in Sachen Ausblicke recht verwöhnt sind, hielt sich die Begeisterung über Dargebotenes in dem Moment etwas in Grenzen. Dafür genehmigten wir uns allerdings eine etwas längere Pause, um nicht zu früh in der Schlucht anzukommen, wo wir vorhatten, unseren Tag zu beschließen.
Im Örtchen Blumberg konnten wir an einem Brunnen noch einmal frisches Trinkwasser zapfen, was umgehend unsere Lebensgeister wieder geweckt hat. Dann ging es auch schon weiter zu den Schleifenbach-Wasserfällen, welche man über eine 7 Meter lange Leiter erreicht, die in die Schlucht des Schleifenbachs hinabführt. – Mit unseren schweren Rucksäcken, die mächtig von hinten anschieben, war das gar kein so leichtes Unterfangen, um nicht etwa auf dem nassen, rutschigen Boden das Gleichgewicht zu verlieren. Doch die Mühen haben sich gelohnt, noch zudem zu dieser Tageszeit die Sonne den Wasserfall optimal auszuleuchten schien.
Eine persönliche Besonderheit war für uns in Achdorf das >>Haus Tibet<<. Obwohl wir uns ja komplett selbst verpflegen wollten und auch konnten, mussten wir unbedingt einen Blick in das für alle offenstehende Häuschen riskieren, in dessen ausgebauter Scheune wir neben einem Kühlschrank jede Menge tibetischer Devotionalien und von Zeitungsartikeln übersäte Wände vorfanden. Der Besitzer dieser Herberge schien sehr viel in der Welt herumgekommen zu sein und dabei wohl auch viel Gutes getan zu haben. Und so konnten wir den ein oder anderen Ort entdecken, wo wir bereits auch waren, hingegen zu ihm allerdings bis jetzt keine aktive Hilfe geleistet hatten. Das wollten wir nun aber schleunigst nachholen und uns nun zumindest ein kühles Bier gönnen und damit einen kleinen Beitrag zur Spendenaktion für tibetische Flüchtige leisten. – Gut, dass es solche Menschen gibt!
Die folgenden Kilometer waren die härtesten an diesem Tag. Bis hin zur Wutachmühle gab es nicht wirklich etwas zu sehen, und so zog sich der Weg über die asphaltierten Straßen und planierten Forstwege umso mehr, währenddessen die Fußsohlen immer ärger zu brennen begannen. Wir waren so etwas von froh, als wir endlich in der Schlucht ankamen, auch wenn wir dafür erst einmal wieder einen Menschenauflauf in Kauf nehmen mussten. Unverzüglich entledigten wir uns am Kanadiersteg der Wanderschuhe, um unsere Füße wieder herunterzukühlen; eine längere Pause inklusive.
Eigentlich war unser Tagesziel nun schon erreicht. So haben wir hin und her überlegt, was wir nun noch machen sollen. Da es mit halb fünf noch immer recht früh war, konnten wir unmöglich schon unser Zelt irgendwo aufschlagen und womöglich die Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Sollten wir vielleicht einen kleinen Abstecher in Richtung Gauchachschlucht machen oder es tatsächlich riskieren, schon heute einen Teil der Wutachschlucht zu erkunden? Was wäre, wenn wir in der Gegend kein Lager für die Nacht finden würden? Wir konnten ja schlecht mitten im Naturschutzgebiet schlafen. So etwas ist ein absolutes Tabu. – Diese Ungewissheit sollte uns nun ständig begleiten. Doch irgendwie macht diese es gerade auch wieder aus – das Abenteuer an sich, die vollkommene Unabhängigkeit und Flexibilität.
“No risk, no fun!” -, und ab ging es in die Schlucht. Diese Entscheidung erwies sich als goldrichtig, denn zu dieser Zeit war nun kaum noch ein Mensch hier unterwegs. Allein die Tatsache, dass man sich auf den engen Pfaden so gut wie gar nicht aus dem Weg gehen kann, war Grund genug, das gerade zu Coronazeiten nicht auch noch heraufbeschwören zu wollen. Außerdem empfanden wir es einfach mega entspannt, sich einmal nicht drängeln lassen zu müssen. So konnten wir dieses Naturidyll mit seinen zerklüfteten Muschelkalkfelsen, an deren Flanken die Wutach mal friedlich, mal wild vorbeifließt, ganz für uns alleine genießen. Mit der tiefstehenden Sonne wurde diesem Örtchen noch eine zusätzliche Magie verliehen.
Wir konnten einfach nicht anders, als uns am Flussbett zwischen all dem großblättrigen Pestwurz niederzulassen – was zugegebenermaßen weniger lecker klingt als es aussieht – und uns das bescheidene Abendbrot schmecken zu lassen; Pumpernickelbrot mit Frühstücksfleisch.
Schnell noch ein wenig Katzenwäsche und Zähneputzen, dann wurde es allerdings Zeit, einen Weg aus der Schlucht zu finden, um nach einem geeigneten Schlafplatz zu suchen.
Noch einmal gerieten wir ordentlich ins Schwitzen, als wir uns mit den letzten Sonnenstrahlen im Gesicht bergan Richtung Bachheim vorangekämpft haben. Doch auch jetzt sollten sich unsere Mühen wieder auszahlen. Dies schien unser Glückstag zu sein, und so fanden wir tatsächlich eine leerstehende Schutzhütte, sogar mit Tür, so dass wir uns erfreulicherweise den Zeltaufbau sparen konnten.
Schnell hatten wir unser Schlaflager hergerichtet, jetzt galt es nur noch, die Zeit etwas totzuschlagen, da es noch recht hell war und wir befürchteten, so nicht einschlafen zu können. Etwas Fußgymnastik für die müden Gelenke, die heute immerhin schon mal 31,5 Kilometer wegstecken mussten, dann wollte sich Flo allerdings nicht mehr davon abbringen lassen, in seinen Schlafsack zu kriechen. Ein paar Stündchen konnte sogar ich schlafen. Fein!
03.06.2020 – von der Wutachschlucht bis zum Fischbacher Höchst
Bei Knäckebrot und Honig will es einem morgens 6 Uhr noch nicht so recht warm werden. Der frisch aufgebrühte Tee schaffte schließlich Abhilfe, um nicht mit komplett starren Gliedern wieder in die Schlucht hinabzusteigen, wo wir nun direkt dort einsteigen wollten, wo wir am Vorabend aufgehört hatten. Und abermals war uns das Idyll aus Felsen, Wasser, Stegen und grünen Pflanzen – den Vier Elementen der Chinesischen Gärten – vollkommen allein vorbehalten. Schnell gewöhnt man sich an diese herrliche Einsamkeit und möchte sie nicht mehr missen.
Auf unserem Weiterweg entdeckten wir tatsächlich noch eine Schutzhütte direkt am Schluchtensteig, in welche wir zur Not hätten auch noch ausweichen können. Eigentlich wäre das für meinen Erlebnisbericht jetzt weniger relevant, wenn nicht irgendein Witzbold darin sein großes Geschäft verrichtet hätte. Ich erwähne das jetzt als Appell an eben jenen “Schluchtenscheißer” und ähnlich denkende Konsorten, denen ich von Herzen wünsche, einmal selbst auf so eine Hütte angewiesen zu sein. Wir waren wirklich absolut entsetzt, wie dumm die Menschheit ist… Nun aber zurück zum angenehmen Teil!
Nachdem wir die Felsengalerien passiert hatten, erwartete uns auch wieder einmal ein Wasserfall. Der Tanegger Wasserfall ist zwar kein Gigant, aber mit seinen von neongrün-leuchtendem Moos überzogenen Felsen ein typisches Bild, wie man es vom Schwarzwald eben erwartet. Ganz in dessen Nähe fanden wir ein lauschiges Plätzchen, an dem wir endlich einmal frühstücken konnten, ohne uns dabei den Hintern abzufrieren; dafür wimmelte es aber nur so von Mücken.
Ohne es in dem Moment zu realisieren, kamen wir nun vom eigentlichen Weg etwas ab. Erst im Nachhinein war uns der Grund für diese kleine Umleitung klar, denn am südlichen Wutachufer hatte es einen bösen Erdrutsch gegeben, und dabei den ganzen Weg unter sich begraben. Das Ausmaß konnten wir noch vom anderen Ufer aus bestaunen.
Zum Glück befand sich der Dietfurter Wasserfall dennoch auf unserer Seite, so dass wir auf diesen einzigartigen Anblick nicht verzichten mussten. Wie eine halbrunde Mooskugel lag dieser nun vor uns, und man konnte nur im Entferntesten ahnen, dass sich darunter überhaupt noch ein Felsgebilde verbarg. Einer Regendusche in der Subtropen-Sauna gleich, tropfte das Wasser daran beharrlich zu Boden; einfach traumhaft schön.
So langsam füllte sich der Wanderweg auch mit Leben, um nicht zu sagen, dass die Frequentierung immens zunahm. Dieser plötzliche Andrang und noch dazu das schwüle Wetter machten uns ein wenig zu schaffen, und ich begann allmählich, etwas fad zu werden. Dennoch wollten wir uns an der Schattenmühle noch den kleinen Abstecher in die Lotenbachklamm genehmigen. Nicht, dass wir schon genug Kilometer geplant hätten, aber dieses Highlight konnten wir uns nicht wirklich entgehen lassen.
Leider kamen wir nicht als einziges auf diese glorreiche Idee, und so hab ich unbewusst wieder meinen Turbo angeschaltet, um tunlichst an den Massen vorbeizurauschen. Hätte ich meinen attraktiven Bremsklotz nicht dabei gehabt, wäre womöglich das ein oder andere Mal der Genuss auf der Strecke geblieben. So mahnten wir uns jedoch, wieder einmal kurz zu entschleunigen, um die letzten Minuten bei schönen Wetter auszukosten.
Jenseits der Wutachschlucht, abseits von allgemeingültigen Attraktionen, wurde es sofort wieder ruhiger. Doch so ganz konnten wir unsere wiedergewonnene Freiheit noch nicht genießen, zu sehr waren wir damit beschäftigt, die Regenjacken, Hüte und Covers anzulegen, wieder abzunehmen und erneut anzulegen. Irgendwann hatten wir uns jedoch so halbwegs mit der neuen Situation arrangiert und erkannt, wie schön erst die Natur bei Regen aussieht. Alles ist noch saftiger, die Farben viel satter; allerdings war es auch viel dampfiger. Ein kleine Fußbad an der Haslachmündung kam uns nun also wie gerufen.
Aller guten Dinge sind bekanntlich Drei, und so wollten wir jetzt schließlich auch noch die Haslachschlucht erkunden, die nun direkt vor unseren Füßen lag. Doch abermals machte uns die Urgewalt der Natur einen Strich durch die Rechnung, und so waren wir schon nach wenigen Metern zum Umkehren gezwungen, weil es auch hier kürzlich einen Erdrutsch gegeben und den Weg weggerissen hat. – Nicht zu glauben, “gesperrt” scheint wohl auch im Schwarzwald “gesperrt” zu bedeuten. – Tja! – Unverrichteter Dinge zogen wir schließlich weiter, über eine weniger attraktive Umgehung. Half ja nix!
Ein genaue Vorstellung, wo wir denn heute Nacht schlafen könnten, hatten wir bisher nicht. Nach intensivem Kartenstudium fanden wir kurz vor dem Örtchen Fischbach 2 Schutzhütten eingezeichnet, die wir nun nacheinander anpeilen wollten. Wir hatten kein Problem damit, uns auch dieses Mal wieder den Zeltaufbau zu ersparen und wären zudem noch im Trocknen, wenn es in der Nacht tatsächlich zu regnen anfangen würde; was nicht auszuschließen war. Das würde allerdings auch heißen, dass wir dann wiederum 31,5 Kilometer zurückgelegt hätten. Trotzdem wollten wir es wagen, allerdings von nun an schon einmal die Augen offen halten, ob sich vielleicht schon vorher ein schönes Plätzchen anbietet.
Der Weg durch Lenzkirch und in Folge durch die dunklen, trostlosen Wälder mit ihren nassen, durchfurchten Wegen, zog sich schier ins Unermessliche. Nichts schaute auf dem sumpfigen Boden nach einem geeigneten Schlaflager her. Das war zugegebenermaßen schon etwas frustrierend.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir endlich in dem winzigen Örtchen Schwende an. Hier sollte nun eine der ausgewiesenen Schutzhütten sein. Mental habe ich mich schon auf ein Ende der Torturen eingestellt und die letzten Meter dem Endsieg entgegen bergauf geschleppt. – Was für eine herbe Enttäuschung! Weit und breit war keine Hütte zu finden. Wir schlugen noch einen kleinen Weg in östlicher Richtung ein; ein Umweg, den wir uns hätten echt sparen können, denn auch hier war nirgends die erhoffte Schutzhütte.
Ich hatte es satt, was bei Bewegung an der frischen Luft eigentlich nicht so oft bei mir vorkommt, und wollte mein Zelt am liebsten gleich an der kleinen Dorfkapelle aufschlagen, welche wenigstens etwas Schutz zu bieten schien. Flo konnte mich dann aber doch noch einmal davon überzeugen, schließlich bis zu der anderen Hütte weiterzuwandern, die wir ferner in der Karte gesehen hatten. Und wieder ging es steil bergan. Zunehmend zogen dunkelgraue Wolken her, und der Wind frischte auf; es roch förmlich nach Regen. – Was ich vor mich hingeschimpft habe, will hier jetzt sicher keiner wissen.
Es kam natürlich, wie es kommen musste. Noch bevor wir das Ziel erreicht hatten, konnte ich es aus der Ferne riechen. Essen! Hier kocht doch wer! Hier ist schon Jemand da! – Flo (in seinem grenzenlosen Optimismus) wollte meine Schwarzmalerei noch nicht so recht wahrhaben, bis wir uns schließlich mit eigenen Augen davon überzeugen konnten. Ja, unsere Bleibe war leider schon belegt, und zu allem Unglück fing es tatsächlich nun auch noch an zu regnen; aber wie!
Shit! Und was macht man da nun in Coronazeiten? Am besten sich nicht anmerken lassen, dass man die anderen sich gerade sonst wohin wünscht und vernünftig miteinander reden! Zum Glück konnte man sich recht schnell einigen, dass das andere Pärchen lieber die traute Zweisamkeit hinter verschlossener Zeltplane sucht, wir hingegen es bevorzugen, auf dem kalten Steinboden der dunklen, zugigen Schutzhütte zu knacken. Etwas unkoordiniert schlichen wir dennoch umher, bis wir endlich unsere Siebensachen soweit geordnet hatten, um uns wieder halbwegs zurechtzufinden.
Schnell noch etwas Wasser für das Abendbrot aufgesetzt, was wir für diesen Zweck extra kilometerlang den Berg hinaufgeschleppt hatten – konnte ja keiner wissen, dass es hier sogar einen Brunnen gibt -, dann verkrochen wir uns schließlich in unsere warmen Schlafsäcke und waren heilfroh, doch noch ein Dach über den Kopf gefunden zu haben. Das war knapp!
04.06.2020 – von Fischbach bis Oberibach
Der dritte Tag begann genauso, wie der zweite aufgehört hatte – mit Regen, noch mehr Regen und ekeligem Wind. Deshalb beschlossen wir, uns beim Zusammenpacken gar nicht allzu großen Stress zu machen, um das Ganze vielleicht auszusitzen. Doch es war absolut keine Besserung in Sicht, und so zogen wir halb acht schließlich doch von dannen, nachdem nun auch das andere Pärchen aus dem Zelt gekrochen war.
Wichtig ist, dass wenigstens immer einer gut drauf ist; und das war heute ich. Komischerweise ließ ich mich von den widrigen äußeren Umständen überhaupt nicht beeindrucken, sondern habe darin eher eine Herausforderung gesehen. – “Bei schönem Wetter kann ja jeder!”, dachte ich mir nur. – Irgendwie hatte es auch schon wieder einen ganz besonderen Reiz, so wie der Nebel durch die Nadelwälder waberte, während wir zum 1134 m hohen Bildstein aufstiegen; welcher den höchsten Punkt des Schluchtensteigs markiert.
Von hier oben würde man bis zu den Alpen schauen können, hieß es. Heute reichte der Blick allerdings maximal bis hinunter auf den größten See des Schwarzwalds – den Schluchsee; zu dem wir kurz darauf hinabstiegen.
Über Unter- und Oberaha – Wer kommt denn auf solche Namen? – spazierten wir nun einen Teil des Seeufers ab; doch die Lust aufs Baden wollte sich bei uns dabei noch nicht so recht einstellen.
Ab Unterkrummen war es dann erst mal wieder vorbei mit dem Seeidyll, allerdings auch mit der entspannten Hatscherei; denn von nun an ging es auch wieder bergan. Ich müsste lügen, wenn ich diesen Abschnitt als Lieblingsetappe bezeichnen würde. Bis auf ein paar alte, für den Schwarzwald so typische Gehöfte, mit ihren dunklen, heruntergezogenen Walmdächern, gab es nicht viel, was unsere Aufmerksamkeit von den schmerzenden Fußsohlen ablenken konnte. Wir waren über jede noch so kleine Abwechslung dankbar und erst recht, als wir kurz vor St. Blasien endlich auf den Alter-Blasiwaldweg eintauchen konnten, wo wieder einmal ein Wasserfall auf uns wartete.
Der Windbergwasserfall liegt in der gleichnamigen Schlucht, welche sich bis hinunter in das bekannte Domstädtchen zieht. Während sich am oberen Ende noch das Wasser seinen Weg über die moosigen Felsen bahnt, um von dort in die Tiefe zu stürzen, plätschert es über kleine Kaskaden immer friedlicher dahin, bis sich letzten Endes nur noch ein kleiner Bach durch die verwunschene, frisch-grüne Landschaft ins Tal schlängelt.
Es galt noch einmal tief durchzuatmen, bevor wir uns nun für kurze Zeit dem urbanen Leben aussetzen würden.
Die gigantische runde Kuppel des Doms von St. Blasien war nicht zu übersehen. Mit einem Durchmesser von 36 Metern und einer Höhe von 62 Metern ist sie die größte Kuppelkirche nördlich der Alpen. Das schlichte Innere kommt dagegen schon wesentlich bescheidener daher. Mit seinem hell durchfluteten, völlig in Weiß gehaltenen Interieur mag es einem vielleicht ein wenig an die Dresdner Frauenkirche erinnern.
Nach einer kurzen Rast ging es auch schon wieder weiter; und natürlich auch wieder bergauf. Dafür konnte man von oben noch einmal auf den mächtigen Dom hinabschauen. – Übrigens ist St. Blasien auch der einzige Berührungspunkt, über den der Albsteig führt; ein weiterer Fernwanderweg, den wir in Aussicht gestellt hatten.
Dreiviertelvier ist ganz klar – Essenszeit. Na zumindest bot sich zu dieser Zeit endlich mal wieder ein Plätzchen zum Kochen an. Wobei es auf 1039 Metern im Schwarzwald schon mal ganz schön zapfig werden kann. Doch wir waren inzwischen ja so einiges gewöhnt.
Während sich Flo umgehend dem Gasbrenner widmen wollte, bin ich noch schnell den hölzernen Aussichtsturm auf dem Lehenkopf emporgeklettert. Gesehen hab ich allerdings nicht viel. Doch das war auch egal, Hauptsache, es gab jetzt etwas Warmes zum Essen!
Nun mögen die meisten von euch denken, an einem Fernwanderweg mit zig Wasserfällen und Bächen, gäbe es immer und überall genügend Wasser. Weit gefehlt! Wir taten schon gut daran, jede erdenkliche Möglichkeit zu nutzen und immer frühzeitig aufzutanken, auch wenn das manchmal nicht nötig gewesen wäre. 3-4 Liter pro Person pro Tag sind schnell vertan, wenn man davon Kochen, Trinken und auch etwas Körperpflege betreiben soll.
Bei dieser Etappe wurde es jedoch wirklich richtig eng. Irgendwo fanden wir ein angerostetes, langsam tropfendes Wasserrohr, an dem wir mit viel Geduld zumindest einen halben Liter abzapfen konnten. Danach sollte zwar noch der Klosterweiher kommen, aufgrund des ehemaligen Nickel-Abbaus aber nicht ganz unbelastet sein. Zumindest stand in unserer Wanderkarte irgendwo geschrieben, dass die Natur mit einem Reichtum an Flechten gesegnet ist, die sich an den Schwermetallgehalt im Boden angepasst haben. Das hörte sich für uns nicht gerade nach einer Einladung zum Trinken an.
Unsere Rettung war schließlich Flo, der per GPS mitten auf einer entlegenen Kuhweide eine Quelle ausmachen konnte, die wir sonst niemals gefunden und wenn doch, nicht als solche eingestuft hätten. Ein Akt, der eher an Geocatching grenzte. Doch immerhin waren wir nun bis auf Weiteres versorgt. Fehlte nur noch ein Schlafplatz.
Nachdem wir mit müden Gliedern noch einmal einen kräftezerrenden Aufstieg gemeistert hatten, wurden wir nach 32 Kilometern endlich fündig. Auf einer Anhöhe oberhalb von Ibach stand eine kleine Schutzhütte, die zwar eher einer luftigen Bushaltestelle glich, denn zum Übernachten einlud, aber uns war nun alles egal. Einen Plan B gab es nicht!
In aller Ruhe haben wir unsere 5-Minuten-Terrinen genossen und danach gleich das Schlaflager aufgebaut. Ziemlich durchgefroren krochen wir noch im Hellen in unsere Schlafsäcke, während der Wind uns ordentlich um die Nasenspitze pfiff und die Rettungsdecke die ganze Nacht zum Rascheln brachte. Gemütlich ist anders.
05.06.2020 – von Oberibach nach Wehr
Wer sich etwas auskennt, dem mag aufgrund der Überschrift vielleicht schon aufgefallen sein, was Sache ist. Ja, tatsächlich hatten wir es uns in den Kopf gesetzt – und letzten Endes auch durchgezogen -, den Schluchtensteig sogar in nur 4 anstatt 6 Tagen zu bewältigen; trotz zusätzlicher Umwege, die uns insgesamt noch 7 weitere Kilometer beschert haben. Doch nachdem wir die Tage zuvor jeweils viel weiter gekommen waren, als wir je gedacht hätten, war es nun kein Ding der Unmöglichkeit mehr, heute noch den letzten Zug zurück zum Ausgangspunkt zu erreichen; aber zumindest ein sehr sportliches Unterfangen.
Punkt 5 Uhr klingelte mein Wecker, und noch im Dunklen packten wir unsere Sachen zusammen, um uns wenig später schon wieder auf Schusters Rappen zu begeben.
Leider wollte sich der frühmorgendliche Nebel noch nicht so recht lichten, und so blieb uns der Ausblick auf den nahegelegenen Hotzenwald verwehrt. Vorbildlich mit der Mülltüte am Rucksack, ging es nun erst einmal durchs Hochmoor, über Weiden und dunstige Wälder, bis wir schließlich die Wehraquelle erreicht hatten und kurz darauf in die liebliche Natur der Hochwehraschlucht eintauchen konnten.
Mit Sicherheit gäbe es noch mehr über den Wallfartsort Todtmoos zu erzählen, zu dessen Kirche im 15. Jh. zig Menschen von Freiberg aus pilgerten, um dort die Pest auszulöschen. Doch für uns stand in diesen Tagen doch mehr das Natur- als das Kulturerlebnis im Vordergrund, und so durchschritten wir eiligen Fußes dieses kleine Städtchen.
Auf dem Weg zur Wehratalschlucht wurden wir noch einmal so richtig auf die Belastungsprobe gestellt. Oder soll ich lieber sagen unsere Equipment? Als hätten wir diese Strafe verdient, fing es nun auch noch an, wie aus Eimern zu schütten. Schleunigst haben wir versucht, einen Unterschlupf zu finden. Doch weder ein windiger Forststand, noch das undichte Blätterdach konnten uns ausreichend Schutz bieten, und so sind wir ganz schön nass geworden. Zum Glück sollte das heute der letzte Tag sein, da konnte man sich durchaus noch einmal motivieren und voll durchziehen. Und das mussten wir auch, um noch ein allerletztes Mal ordentlich Höhenmeter abzuspulen.
Für all die Strapazen wurden wir aber in der Wehratalschlucht komplett entschädigt; welche ein weiteres Highlight des Schluchtensteigs darstellt. Das machte sich allerdings auch schnell wieder in der zunehmenden Besucherdichte bemerkbar. Allein war man hier sicher nicht unterwegs, und das trotz des schlechten Wetters.
Auf schmalen, mit Wurzeln versehenen Pfaden ging es dicht an den bemoosten Felsflanken entlang. Wir konnte gar nicht anders, als uns dort niederzulassen und einen Tee einzuschenken, um etwas mehr Zeit zum Genießen zu haben, während alle anderen mit ihren klappernden Wanderstöcken an uns vorbeizogen. – Kurz darauf: Ruhe, endlich einmal Ruhe! –
Im Anschluss ging es weiter auf und ab, über raschelndes Laub die luftigen Hänge entlang; über kleine Bächlein und Brücken, bis wir den Stausee der Wehra schon fast im Blick hatten. Doch bevor wir uns wieder der Zivilisation aussetzten mussten, wollten wir uns noch ein letztes Mal in aller Abgeschiedenheit ein Süppchen kochen. Dafür nahmen wir einen kleinen Umweg zu einer etwas höher gelegenen Schutzhütte in Kauf, die sogar mit Brunnen und Plumpsklo versehen war. Was für ein Luxus, wäre dort nicht dieser eiskalte Wind gewesen. Danach hieß es leider, mental Abschied zu nehmen von der Ruhe, der Unabhängigkeit, aber auch von der Demut und dem Verzicht. – Ja, ihr lest richtig, es kann wirklich auch befreiend sein, einmal zu verzichten. Es eröffnet einen wieder den Blick, auf das was man hat, und dass im Leben nichts selbstverständlich sein sollte.
Die letzten Kilometer waren noch einmal eine Tortur. Mit dem absehbaren Ende vor Augen scheint sich der Körper schon auf den Zustand der totalen Entspannung einzustellen und ist wohl nicht mehr bereit, die sportlichen Hormone sowohl zum Kopf als auch zu den Füßen zu entsenden, die die Bereitschaft zu Schmerztoleranz signalisieren. Und so zog sich der Weg von der Staumauer bis zum Busbahnhof von Wehr unendlich lang; und mit jedem Meter, den wir über den harten Asphalt rannten, wurde das Feuer unter den Sohlen mehr und mehr. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie erleichtert wir waren, als wir endlich unser Ziel erreicht hatten – um 16 Uhr, nach 4 Tagen, 126,5 Kilometern und 3600 Höhenmetern (einfach).
Ganz ausgestanden war es allerdings hiermit noch nicht. Soll mal keiner auf die Idee kommen, dass bei einem ausgewiesenen Fernwanderweg auch eine (unkomplizierte) öffentliche Verkehrsanbindung gewährleistet ist, geschweige denn, dass Hiesige darüber Auskunft geben können, wie man denn wieder nach Stühlingen zurückkommt. Das hatten wir uns ehrlich gesagt etwas einfacher vorgestellt. So mussten wir nun zuerst einmal in einen Bus einsteigen, der uns nach Wehr-Brennet zum eigentlichen Bahnhof bringt. Fahrkartenschalter gab es vor Ort natürlich keinen, und selbst im Bus konnten wir beim Fahrer keine Tickets lösen, da man coronabedingt hinten einsteigen und dort auch bleiben musste. Obwohl wir schon Peking und Shanghai gemeistert hatten, waren wir hier mit der Situation etwas überfordert und hofften inständig, dass wenigstens keiner zum Kontrollieren kommt und uns beim ungewollten Schwarzfahren erwischt. Zum Glück ging das schon mal gut, und am Bahnhof konnten wir dann endlich auch die Fahrkarten ziehen.
Eine Stunde Zugfahrt bis Lauchingen, dann hieß es wieder, in einen Bus umzusteigen und noch einmal eine halbe Stunde bis nach Stühlingen weiterzufahren. Dank der überaus aufgeschlossenen Busfahrerin konnten wir dann wenigstens diese Fahrt als recht kurzweilig verbuchen. Trotzdem waren wir mehr als froh, als wir endlich am Ziel ankamen und nun nur noch zu unserem Auto spazieren mussten.
Stand lediglich noch die fünfstündige Heimfahrt nach Lenggries an, aber Flo fährt ja zum Glück gerne Auto… Das letzte Terrinchen haben wir uns dann aber tatsächlich gespart. Wir wollten jetzt nur noch im warmen Auto sitzen und beherzt in einer Knacker beißen. Irgendwann ist einmal der Punkt erreicht, wo man lieber auf vergangenes Abenteuer zurückblicken möchte und sich freut, wieder im Alltag angekommen zu sein.